Der Dämon
Darf ich Ihnen noch ein
Glas Wein nachschenken, Selina?“, fragte Hildebrand,
nachdem er aus der Küche zurückgekehrt war. „Ich darf
Sie doch Selina nennen?“, fügte er leise hinzu, als sie
mit einer Antwort zögerte.
Bravo, flüsterte der Rotweinteufel in seinem Hinterkopf:
Jetzt sagt sie zum ersten Mal nein und alles ist vorbei,
bevor es angefangen hat. Hildebrand biss sich auf die
Unterlippe und hielt den Atem an, während der kleine
Teufel in ihm weiter das Schlimmste orakelte.
„Ja“, erwiderte sie endlich nach einigen Sekunden, in
denen sie ihn nur stumm anblickte.
„Und Sie heißen Lukas, nicht wahr?“
„Richtig“, bestätigte er mit seinem charmantesten
Lächeln.
„Lukas Hildebrand und Selina Drechsler sitzen gemütlich
beim Abendessen in meiner kleinen Wohnung, trinken
kalifornischen Rotwein dazu und genießen den Blick über
das nächtliche München. Diese Episode wurde in der Bibel
offensichtlich vergessen.“
Der kleine Teufel begann zu kichern. Sie lächelte ihn
an, als er neben ihr stand und das Glas erneut füllte.
„Glauben Sie eigentlich an Gott, Lukas?“
Bravo, rief der kleine Teufel. Das ist das ideale Thema
zwischen Mann und Frau! Hildebrand setzte sich neben
seinen Gast.
„Wissen Sie, ich habe noch nie darüber nachgedacht. Mein
Leben verlief bisher in so Wohlgelenkten Bahnen, dass
ich eigentlich noch keinen Grund sah, mich mit Theologie
zu beschäftigen.“
Übergangslos wechselte er das Thema: „Hat Ihnen
eigentlich das Essen geschmeckt, Selina?“
„Es war vorzüglich, Lukas. Sie sind ein exzellenter
Koch. Aber soweit ich weiß, sind Sie das ja tatsächlich,
nicht wahr?“
Komm zur Sache, flüsterte der kleine Teufel. Zur Sache,
Schätzchen! Hildebrand nickte bestätigend und hob sein
Glas.
„Auf Ihr Wohl, Selina. Ich freue mich, dass Sie meiner
Einladung gefolgt sind – selbst wenn ich Sie fast
überreden musste. Ich kam mir schon vor wie ein
geschwätziger Versicherungsvertreter, bis Sie endlich
zusagten. Dabei wohnen wir schon seit einem Jahr im
selben Haus, Sie unten im Parterre und ich vier
Stockwerke über Ihnen. Trotzdem war es ein weiter Weg
... Auf Ihr Wohl, Selina. Ich freue mich, dass Sie hier
sind!“
Der kleine Teufel in ihm begann Tränen zu lachen. Einen
Moment lang lauschten sie dem dunklen Nachklingen der
Weingläser, blickten einander in die Augen und tranken
schweigend. Die kleine Uhr auf dem Sideboard neben der
Couch läutete leise. Sie hatte noch nicht aufgehört, als
durch das offene Fenster die ein paar Straßen entfernte
Kirchenuhr ebenfalls zu schlagen begann. Sie schlug
dumpfer, aber auch langsamer. Ganz im Gegenteil zu
Hildebrands Herz. Seit drei Stunden war sie jetzt bei
ihm, hatte kaum etwas gesprochen und wenn, dann
freundlich und distanziert, während er mit Kochen und
Auftragen beschäftigt war und es dennoch fertig brachte,
unaufhörlich auf sie einzureden.
Seit er sich das letzte Mal wegen eines Mädchens so
aufgeführt hatte, mussten zwanzig Jahre vergangen sein.
Du hast eben nichts dazu gelernt, flüsterte der kleine
Rotweinteufel in seinem Kopf. „Dreiundzwanzig“, murmelte
Hildebrand kopfschüttelnd.
„Was meinten Sie, Lukas?“, fragte Selina und blickte ihn
etwas verwirrt an.
Na los, erzähl ihr von diesen Peinlichkeiten, flüsterte
der Teufel in ihm. Sie wird sich totlachen. Hildebrand
stellte das Glas auf den Tisch zurück und lächelte etwas
verlegen.
„Entschuldigen Sie, Selina. Ich war einen Augenblick in
Gedanken ...“
„Ich verstehe. Sie haben Recht, Lukas. Es ist auch schon
elf Uhr und höchste Zeit, den schönen Abend zu beenden.“
Sie meinte es ernst, wie ihrem Gesichtsausdruck unschwer
zu entnehmen war. Das winzige Grübchen auf ihrer linken
Wange, das ihr Lächeln so unwiderstehlich für ihn
machte, war ebenso verschwunden wie der schimmernde
Glanz in ihren Augen. Hildebrand zuckte zusammen und hob
beschwörend beide Hände hoch.
„Um Gottes Willen, nein! Ich bin doch so froh, dass Sie
endlich meiner Einladung ... Ich meine, ich war nur ...
Selina, ich ...“
Er hörte auf zu stammeln, weil sie plötzlich wieder
lächelte. Sie hält dich für einen Verrückten, wisperte
der Dämon in ihm. Selina drehte das Weinglas zwischen
ihren Händen.
„Ich finde Sie sehr sympathisch, Lukas. Es war auch ein
wunderschöner Abend mit Ihnen. Aber ich möchte doch
etwas zwischen uns klarstellen ...“
Hildebrand nahm endlich seine Hände herunter, atmete
tief ein und blickte ihr in die Augen. Sie erwiderte
seinen Blick, nahm aber ihre Hände vom Tisch, als
Hildebrand versuchte, eine davon zu berühren. Ohne den
Augenkontakt mir ihr aufzugeben, legte er seinen Arm
sanft um ihre Schultern. Er spürte, wie sich verspannte
und zurück weichen wollte. Aber ihre Augen lächelten
dennoch, selbst das faszinierende Grübchen war wieder
neben ihrem Mund zu sehen.
„Selina, ich weiß, was du sagen willst“, flüsterte
Hildebrand, während er seine rechte Hand hob und ihr
eine Haarsträhne aus der Stirn strich, die sich
einladend gelöst hatte. Selina öffnete ihren Mund, aber
Hildebrand legte ihr den Zeigefinger auf die Lippen. Sie
schloss kurz die Augen, dann ließ sie es wieder zu, dass
er darin ertrank. Unmerklich wurde der Abstand zwischen
ihren Gesichtern geringer. Hildebrand streichelte ihre
Wange, tastete über das Grübchen und liebkoste in seiner
unbeholfenen, maskulinen Art ihre halbgeöffneten Lippen,
während er mit der anderen Hand ein sinnloses Spiel mit
Selinas schulterlangen Haaren begann. Und immer noch
blickten sie einander in die Augen. Er, vollkommen
überwältigt von diesem Augenblick und sie, eher
reserviert abwartend auf das, was folgen würde und die
gefrorene Zeit entweder zerspringen ließ oder zu Äonen
ausdehnen würde.
Selbst der kleine Teufel gab sich dem schweigenden
Mirakel hin, das die beiden Menschen in diesem Zimmer
einhüllte. Eine der vielen Kerzen, die Hildebrand im
Zimmer aufgestellt hatte, erlosch mit einem kaum
hörbaren Zischen.
„Lukas“, flüsterte Selina kaum hörbar, „ich glaube
nicht, dass wir das wirklich ... Was versprichst du dir
davon? Eine neue Erfahrung mit einer ...“
Hildebrand küsste ihr den Einwand einfach von den
Lippen. Wieder zögerte sie einen winzigen Moment, wollte
ihn von sich stoßen, doch ebenso schnell kam sie ihm
entgegen, erst sanft und tastend, dann fordernder und
anschmiegsam zugleich. Er umfasste ihr Gesicht mit
beiden Händen, als hätte er Angst, sie könne ihm
entgleiten, während sie einander küssten.
Dann, plötzlich mutiger geworden, umfasste er sie mit
der Linken, während seine Rechte langsam über ihren Hals
zum Oberarm weiter wanderte, sanft über ihre Brüste
strich und irgendwann, mit der Selbstverständlichkeit
eines Reisenden, für den der Weg das Ziel, aber nicht
das einzige ist, auf ihrem Schoß liegen blieb. Und noch
immer küssten sie sich, mit jeder Sekunde
leidenschaftlicher und in dem Maß, in dem ihre
Vertrautheit sich füreinander öffnete, wuchs das
Verlangen in Hildebrand.
„Selina“, flüsterte er irgendwann mit heiserer Stimme
dicht vor ihrem Mund, „Selina, ich will mit dir
schlafen. Du machst mich wahnsinnig!“
„Du weißt, dass das vollkommen dumm wäre!“, flüsterte
sie schwer atmend zurück. „Wozu soll das gut sein? Ich
will es nicht. Ich habe es nicht mehr gemacht, seitdem
ich – du weißt schon. Es ist besser, wir belassen es
dabei.“
Doch in ihren Augen konnte er lesen, dass sie das
Gegenteil meinte. Und an ihrer zitternden Hand, die auf
seinem Oberschenkel lag, nur einige wenige, die
Erfüllung versprechende Zentimeter von seinem erigierten
Glied entfernt, spurte er, dass auch ihre Lust wuchs.
Er küsste sie wieder, genoss das Spiel mit der Zunge,
ließ seine Hände wieder über ihren Körper gleiten, bis
sie sich auf den Rhythmus seines Spiels völlig einließ
und sogar selbst jene Varianten einbrachte, die einen
Mann verrückt und eine Frau zur völligen Hingabe bereit
machen können. Der kleine Teufel in Hildebrand hatte
sich in die stille Rolle eines Voyeurs zurückgezogen und
schwieg selbst dann noch, als sich die beiden irgendwann
einmal schwer atmend voneinander lösten und sich
Hildebrand erhob.
„Selina, komm. Lass uns ins Bett gehen ...“
Sie strich sich langsam die Haare aus dem Gesicht,
versuchte mit einer fahrigen Bewegung ihre geöffnete
Bluse zu schließen und erwiderte dann mit gesenktem
Kopf: „Ins Bett gehen? Wie stellst du dir das vor?“
Hildebrand starrte einen Moment fassungslos auf die vor
ihm Sitzende. Erst als sie wieder aufblickte, das
Lächeln, das Grübchen und die schimmernden Augen ihn
anstrahlten, verstand er ihre Bemerkung. Er schlug sich
mit der flachen Hand auf die Stirn, dann beugte er sich
zu ihr herab und küsste sie noch einmal lange.
„Das kommt davon, wenn du mich so verrückt machst, dass
mein Verstand aussetzt!“, flüsterte er ihr ins Ohr.
Und während der Kobold in ihm ein letztes Mal höhnisch
zu kichern begann, schob er Selinas Rollstuhl vom Tisch
weg, hob sie vorsichtig hoch und trug die
Querschnittsgelähmte in sein Schlafzimmer. Den kleinen
Teufel ließ er bei den halbvollen Rotweingläsern zurück,
wo er sich irgendwann, Stunden später, mit den
verlöschenden Kerzen in Rauch auflöste.
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